Süddeutsche Zeitung, Dienstag, Nr. 107, 11. Mai 1999, Seite V2/14

Wenn der Darm nicht dicht hält

Signalstoffe schwächen die Schleimhautbarriere bei Durchfallerkrankungen / Antikörper sollen helfen

"Das kann nochmal ein Durchbruch werden wie beim Cortison", spekuliert Jörg-Dieter Schulzke. Der Internist vom Berliner Universitätsklinikum Benjamin Franklin (UKBF) erwartet einiges von neuen Medikamenten, die bei Morbus Crohn helfen sollen – einer chronischen Entzündung der Darmwand, die zu Bauchschmerzen und Durchfällen führt. Schulzkes Hoffnungen ruhen auf Antikörpern gegen den "Tumornekrosefaktor-alpha" (TNFa), einen Signalstoff des Immunsystems. Pilot-Studien zeigten, daß diese Antikörper auch dann wirken, wenn andere Mittel – etwa Cortison-Präparate – versagen (New England Journal of Medicine, Bd. 337, S. 1029, 1997). Dieses Jahr nun sollen die Antikörper für die Behandlung des "Crohn" in Deutschland auf den Markt kommen – auch wenn noch nicht alle Sicherheitsbedenken ausgeräumt sind.

Schwache Schweißnähte

Während Ärzte große Hoffnungen auf die neue Therapie setzen, beginnen Forscher zu begreifen, warum bestimmte Durchfallerkrankungen überhaupt entstehen. Wie auf einem Expertentreffen in Berlin deutlich wurde, sind Signalstoffe wie TNFa im Spiel, wenn der Darm undicht wird. Nicht nur bei Morbus Crohn, sondern beispielsweise auch bei Colitis ulcerosa, einer Entzündung des Darms, die ebenfalls wiederkehrende Durchfälle verursacht. 

Schwachstelle der Darmbarriere sind offenbar spezielle Brücken zwischen den Zellen der Darmschleimhaut. Die Schleimhautzellen, die den Darm von innen auskleiden, filtern Nährstoffe aus dem Nahrungsbrei heraus und pumpen Wasser und Mineralien in den Körperkreislauf hinein. Das bliebe jedoch Sisyphusarbeit, wenn nicht gleichzeitig verhindert würde, daß die Flüssigkeit wieder in den Darm zurückflutet. Denn zwischen den dicht an dicht sitzenden Zellen auf der Darmwand befinden sich feinste Ritzen. Diese werden von sogenannten "tight junctions" überbrückt – Schweißnähten, die die Schleimhautzellen miteinander verbinden. Die Schwächung der tight junctions ist, wie Wissenschaftler glauben, eine der Hauptursachen für Durchfälle.

"Bis vor kurzem wußten wir nicht, wie die tight junctions aufgebaut sind", sagt der Physiologe Michael Fromm vom UKBF. Letztes Jahr fand eine japanische Forschergruppe um Shoichiro Tsukita von der Universität Kyoto besondere Eiweiße, die die Darmzellen verschweißen: die "Claudine". Diese durchziehen die Zellhaut und verbinden sich mit identischen Molekülen auf den Nachbarzellen. So entsteht ein Geäst von Eiweißmolekülen, welches die Zellritzen abdichtet. "Vermutlich", sagt Jörg-Dieter Schulzke, "stehen die tight junctions unter der Kontrolle von Signalstoffen". TNFa greife an einem Rezeptor der Schleimhautzellen an und mache die Zellfugen durchlässig. Für diese Hypothese spricht, daß im Darmgewebe von Patienten mit Colitis ulcerosa die TNFa-Spiegel erhöht und gleichzeitig die Claudin-Moleküle vermindert sind, was die Zellbarrieren schwächt (Gastroenterology, Bd. 116, S. 301, 1999).

Die TNFa-Hypothese der Durchfallerkrankungen wird auch dadurch gestützt, daß erhöhte Konzentrationen des Signalstoffs bei Morbus Crohn-Patienten auf ein größeres Risiko hinweisen, von einem erneuten Schub der Krankheit befallen zu werden (Lancet, Bd. 353, S. 459, 1999).

Keine Wundermittel

Möglicherweise, meint Michael Fromm, führen solche Immun-Mechanismen zu einer Selbstverstärkung der Krankheitsprozesse. Wenn die Schweißnähte der Zellen undicht werden, verliert der Darm nicht nur Wasser und Mineralien. Umgekehrt dringen auch Bakterien und Giftstoffe durch die leckgeschlagene Darmbarriere ein. Bakteriengifte stimulieren Immunzellen zur Produktion von TNFa , der wiederum die tight junctions durchlässiger macht. "Dieser Teufelskreis", so Fromm, "erklärt vielleicht, warum Krankheiten wie Colitis ulcerosa und Morbus Crohn in langen Schüben verlaufen – ohne daß noch ein akuter Auslöser zu finden ist".

Genau diesen Teufelskreis könnten Antikörper gegen TNFa durchbrechen. Allerdings scheint TNFa keineswegs die einzige Ursache zu sein, wenn im Darm die Dämme brechen. Weitere Signalstoffe und das vegetative Nervensystem spielen offenbar ebenso eine Rolle, wie auf der Expertentagung deutlich wurde. Die teuren Antikörper-Präparate dürften daher wohl auch für den Morbus Crohn nicht zum Wundermittel werden. Zudem ist ihr Einsatz nach Ansicht von Fromm nicht völlig unproblematisch. Theoretisch könnten die Mittel die Entstehung von Krebs begünstigen, resümiert der Physiologe.

Auch Jörg-Dieter Schulzke will nicht ganz ausschließen, daß sich Patienten durch die Antikörper-Therapie einen Krebs einhandeln könnten – auch wenn dieser Zusammenhang durch bisherige Studien noch nicht sicher belegt sei. "Im Einzelfall", so Schulzke, "müssen wir den erhofften Nutzen immer gegen den möglichen Schaden abwägen". Bisher jedenfalls hätten die Präparate alle Hoffnungen erfüllt.

Martin Lindner